Callwey: Liebe Frau von Wietersheim, mit „Mütter & Töchter. Wie wir wohnen und was uns verbindet“ ist Ihnen ein besonderes Buchprojekt gelungen. Wie kamen sie auf die Idee?

Stefanie von Wietersheim: Mütter und Töchter – dieses Thema beschäftigt mich seit rund 10 Jahren. Wie sie miteinander leben, umgehen, warum Töchter für Mütter so etwas anderes sind als Söhne – und welch entscheidende Rolle unsere Mütter für uns Töchter spielen.

Callwey: Als Kulturjournalistin haben Sie sicherlich für viele Jahre und in vielen Ländern schöne Häuser und deren Bewohner zu sehen bekommen…

SvW: Natürlich schaue ich mir auch privat jedes Haus sofort mit einem intensiven Blick an, lese in Objekten, versuche die Persönlichkeiten seiner Besitzerinnen zu erraten. Eine Manie, eine déformation professionelle. Und so kam es, dass ich immer öfter versuchte, Häuser von Müttern und ihren Töchtern heimlich zu vergleichen. Die Mutter wohnt im Gelsenkirchener Barock, die Tochter in einem Londoner Loft mit Betonboden? Wie kommt denn das? Wie kommt sie von der einen in die andere Welt? Wie sah ihr Lebensweg aus, die Brücke, die sie vom einen in das andere Haus führte? Bei einer anderen Freundin sieht es dagegen vielleicht genauso aus wie bei ihrer Mutter: KPM-Porzellan, Ikea-Regale, gelbe Wände – nur gibt es bei der Tochter keine Pferdestiche über der Biedermeier-Kommode, sondern Fotos von LUMAS. Und das Putzen hat sie schon lange aufgegeben. Oder diese Tochter aus einem minimalistischen Architektenhaushalt, in dem es nicht einmal Tischsets gab und in dem immer noch das Bauhaus als das Höchste galt: die wohnt nun in Shabby Schick mit selbst bestickten Kissen und streicht ihre Schreinerküche in Farrow&Ball.

Callwey: Eine Menge Fragen – wie anspruchsvoll war es dazu die richtigen Antworten zu finden?

SvW: Ich kann nur sagen: das war ein echtes Abenteuer. Mit meiner Fotografin, Claudia von Boch, haben wir dann eineinhalb Jahre an diesem Projekt gearbeitet. Wir sind dafür in Istanbul und Tübingen, in München und Paris, in Berlin und London, in Verona und Tel Aviv, in Lüneburg und Gstaad und an vielen anderen Orten gewesen, um möglichst interessante Interviewpartnerinnen zu besuchen und zu fotografieren. Diese Mütter-Töchter-Paare zu finden, sie davon zu überzeugen, sich interviewen und fotografieren zu lassen, war extrem kompliziert, da das Thema ungeheuer persönlich ist. Und selbst bei den offensten, entspanntesten Interviewpartnerinnen flossen schon einmal die Tränen. Nächtelang haben wir miteinander gesprochen.

Callwey: Wie repräsentativ ist das Bild, welches Sie in Ihrem Buch zeigen?

SvW: Zugegeben: in unserem Buch erscheinen relativ harmonische Mutter-Tochter-Paare. Töchter, die sich ducken, verstecken, ihre Mütter hassen oder hoch problematische Beziehungen haben, hätten uns gar nicht in ihr Haus gelassen. Denn über das Mutter-Tochter-Verhältnis zu sprechen und dann noch eine Fotografin mit der Kamera einzulassen – für viele eine zu große Überwindung. Manche Mütter oder Töchter sagten uns erst zu, dann wieder ab, sie hatten wirklich Bammel. Umso glücklicher waren wir über die souveräne Offenheit derjenigen Mütter und Töchter, die ihre Türen für unsere Reportagen öffneten. Alle Bilder und Texte entstanden exklusiv für dieses Buch.

Callwey: Ein sehr innovatives Projekt… Wie sehen Sie die Mutter-Tochter Beziehung?

Eigentlich sind Mutter-und-Tochter-Geschichten so alt wie die Menschheit, immer wieder neu, Millionen mal anders. Mütter sind geliebtes Ideal oder jahrelanger Terror, dazwischen schimmern unendlich viele Nuancen. Es gibt wunderbare, warmherzige, witzige Mütter, abwesende, gleichgültige, überforderte Mütter. Ersatzmütter, Pflegemütter, Adoptivmütter, – und ungelebte Mütter. Diejenigen, die sich gesehnt haben, Kinder zu bekommen – und denen es verwehrt war. Mutter wird man jeden Tag neu, in Anstrengung und Lernen und manchmal auch im jahrelangen Kampf, mit Brüchen und Blessuren. Als Tochter wird man geboren, empfängt, lernt, nimmt über viele Jahre und Jahrzehnte, oft ohne nachzudenken, ein gutes Recht der Kinder. Im jahrzehntelangen Miteinander von Müttern und ihren Töchtern gibt es immer wieder neue, überraschende Wege und Abenteuer, Allltagsnervereien, schwere Prüfungen, aber auch Glücksmomente und Seligkeiten.

Und irgendwann kommt im gemeinsamen Lebenslauf der vorher kaum erspürte Moment, in dem sich das Kraftverhältnis zwischen Mutter und Tochter ändert. Wenn Stärke und Führung der Mutter durch das Alter abnehmen, die Tochter den Staffelstab von der Mutter übernimmt. Wenn sie beginnt, die Rolle der Fürsorgerin zu übernehmen, oft eine fragile Phase für beide, in der sie sich neu definieren müssen.

Callwey: Entspricht dies nicht auch der Beziehung zwischen Vater und Kind?

SvW: atürlich gelten ähnliche Dinge auch im Verhältnis von Müttern und Söhnen – oder von Vätern und ihren Kindern allgemein. Uns hat in diesem Buch aber das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter interessiert. Und zwar nicht nur das geistig-emotionale Innenleben, sondern auch die Außenwelt. Wie sich Persönlichkeit, Werte und Familienkultur in den Häusern von Müttern und Töchtern zeigen. Wie sich die Vorstellung von Stil und Atmosphäre ausbilden, wie Kultur weiter gegeben und der Sinn für individuelle Gestaltung tradiert wird. Im besten Sinne: die Frau als Haus-Frau.

 Callwey: In Ihrem Buch bezeichnen Sie die Mutter als unser erstes Zuhause: als „die erste schützende Hülle, die uns umgibt, unser ureigenes, atmendes Haus“ – ein sehr schönes Bild.

SvW: Von ihr lernen wir bald nach der Geburt, wie es sich anfühlt, ein Zuhause zu haben, sie ist Taktgeber der Woche, Bildnerin der Alltagsbühne. Sie sorgt für Leben, Überleben und Wärme – und für Kultur. Sie richtet das Haus ein, bestimmt die Atmosphäre, in den meisten Fällen auch heute noch, Emanzipation hin oder her. Wohnungen und Häuser sind Behausung, sie geben Sicherheit, Stabilität, bieten unseren Träumen ein Dach – etwas ganz Elementares. Und damit sind wir wieder bei der Idee der Mutter als Zuhause, als Grundelement des Lebens. Wenn es um das Haus geht – und den Einfluss der Mutter darin, gibt es viele faszinierende Fragen. Was sagt unser Zuhause über uns als Menschen, als Angehörige einer Sippe, einer Kleinfamilie, einer Gesellschaftsschicht? Wie beeinflusst die Berufswahl das Zuhause? Kann man Stil lernen? Wie wird er weiter gegeben? Wie tradieren sich Geschmack und die Vorstellung dessen, was als schön gilt? All das sieht man, wenn man Häuser genau betrachtet. Und wenn man parallel sowohl Häuser von Müttern als auch von Töchtern ansieht, kann man bemerkenswerte Parallelen, verstecke Zitate oder radikale Brüche erkennen. Manche Häuser sind Stoff für ganze Lebensromane von Müttern und ihren Töchtern. Geschichten zum Anfassen…“

Callwey: Wie weit sind die Aspekte dieser persönlichen Geschichten allgemein gültig?

SvW: Überraschend für uns kamen einige Themen immer wieder, so unterschiedlich unsere Interviewpartnerinnen, egal in welchem Land, in welcher sozialen Schicht: Das Gefühl des Alleinseins auch bei den erwachsenen Töchtern, wenn die Mütter weit entfernt leben oder beruflich beschäftigt ist. Auch bei vielen gestandenen Frauen scheint die Sehnsucht durch nach der Mutter, die da ist mit ihrer Wärme, die beruhigt, mit Rat und Tat zur Seite steht, die versorgt. Auch oder gerade, wenn sie Managerin, Politikerin oder sonst sehr beschäftigt ist. Ein sehr altmodisches Mutter-Bild. Emotionen fragen nicht nach Political Correctness und Emanzipation. Auf der anderen Seite stellte sich bei den älteren Müttern, die wir interviewten, immer irgendwann die Frage: Wenn die Töchter aus dem Haus sind, was dann? Den Töchtern mit den Enkeln helfen, als Notfalldienst immer einsatzbereit sein, stopfen, pflegen, das Leben noch einmal in der Familie hingeben? Oder in die Öffentlichkeit gehen, einen Beruf ausüben? Auch da sehen wir, wie sich die Zeiten geändert haben.

Callwey: Wer waren diese Mütter und Töchter?

SvW: Stellvertretend erscheinen hier zehn Mütter und zehn Töchter, die eine gewisse kulturelle und konfessionelle Vielfalt widerspiegeln sollen: die jüdische Mamme Charlotte Knobloch mit ihrer Tochter Sonia in Tel Aviv; die italienische Mamma Rosetta, Mutter der Schauspielerin Désirée Nosbusch; die protestantische Äbtissin Freifrau von der Goltz und ihre von familiären Pioniergeist geprägte Tochter Felicitas: die in einer moslemischen Familie in Istanbul lebende südamerikanische Mutter Maria Eliyesil, deren Tochter Melissa Gräfin von Faber-Castell in Deutschland ähnliche Integrationsprozesse macht wie ihre Mutter 30 Jahre zuvor; die beiden Pariserinnen Florine und Henriette Asch, die aus einem jüdischen Straßburger Bankhaus stammen; Festspiel-Intendantin Nike Wagner und Tochter Louise, Tänzerin und Choreographin, die über ihre berühmten Vorfahrinnen aus dem Wagner-Clan nachdenken; die Mode-Unternehmerin Susanne Botschen, deren Tochter Christina den Unternehmergeist der Mutter besitzt, aber bewusst die Nachfolge in ihrer Firma ausschlug; die kreative Berliner start-up Unternehmerin Josephine Gaede und ihre Mutter Bettina, die gemeinsam ein Internetbusiness aufbauen; die starke Nachkriegs-Unternehmerfrau Ingrid Kohl, deren Tochter, Astrid Prinzessin von Liechtenstein, das Familienunternehmern in Italien weiterführt und die gemeinsam in einem 3-Generationen-Anwesen leben. Die Londoner Architektin Christina Seilern hat ihrer Mutter Louisa, einer Kunstsammlerin, in der Schweiz ein Haus gebaut. Und sie wohnt gleich nebenan. Wir wollen mit diesem Buch die ständige Bewegung zwischen Mutter und Tochter zeigen. Das gemeinsame Wachsen, Lösen, Streiten und Sich-finden. Das Sich-Zuhause-Sein. Zwei Lebensgeschichten, die sich durchdringen.

Callwey: Welches Ereignis ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

SvW: Ein fast bühnenreifer Moment war bei unseren Doppelinterviews der Augenblick, wenn die Tochter schon mit uns in einem Raum saß – und dann die Mutter durch die Tür trat. Unbewusst richteten sich die meisten Töchter rein körperlich, aber auch innerlich auf, sie veränderten sich sichtbar in ihrer Präsenz. Diese Verwandlung in Körpersprache und Verhalten war für faszinierend. Erst mit der Mutter entstand bei unseren Geschichten ein anderer, ein erfüllter Raum, so stark und selbstbewusst die Töchter alle sind. Sie wurden Tochter.

Dazu übrigens eine persönliche Anekdote: Ganz am Ende des Projekts stellte ich meinen eigenen Kindern die Frage, die ich in unserem Questionnaire-Teil des Buches jede Tochter fragte: “Meine Mutter ist für mich…”. Ich bat sie, den Satz zu vollenden. Ganz schön schwer! Und außerdem wollte ich lange Zeit das Buchthema bewusst nicht über sie stülpen, habe sie nie selber eng damit konfrontiert. Umso erstaunter war ich, dass meine eigenen Kinder ohne zu zögern sofort die Frage beantworteten. Meine 14-jährige Tochter Antonia sagte: “Meine Mutter ist für mich… mein Vorbild und eine Energie.” Mein 12-jähriger Sohn Leopold sagte: “…meine Wohltäterin und mein Leitvogel.” Diese vier Bilder meiner eigenen Kinder, mit der sie mich als Mutter spiegelten, haben mich enorm berührt. Denn natürlich fetzen wir uns auch ganz ordentlich. Schon irre, Mutter zu sein.